Ein
Beitrag
von
Claus
Hilgenstock,
Frankfurt







































































































































Inhalt



 
Wer nicht hören will, muss lesen.

Wenn man unterstellt, dass nicht nur die Technik sich entwickelt, dass auch die Hörgewohnheiten sich ändern; wenn man annimmt, dass die Beschreibungen des Klangs technisch reproduzierter Musik etwas aussagen über die Gewohnheiten des Hörers - und dass sie etwas an ihnen bewirken: Dann kann man eine Konstante ausmachen, die seit einiger Zeit solche Erwartungen ans Hören mitbestimmt und den Geschmack des Käufers prägt.

Der Raum

ist alles; Räumlichkeit ist dabeisein, eintauchen, sich gefangen nehmen lassen, ist Luft um die Instrumente; ist auch die Verlockung, Erscheinungen nicht zu begreifen, sondern einfach darauf zu deuten: da! Der Raum ist die Dimension der Gleichzeitigkeit, er stellt Reichtum aus, die Prachtentfaltung des Materiellen, kurz, der Raum verkörpert, in der Räumlichkeit bietet sich alles dar, was in der Musik von Übel ist.

Zugestanden, die Darbietung von Musik geschieht im Raum, er gehört zur Abbildung, aber war da nicht noch eine andere Dimension?

Die Zeit

Die Musik braucht den Raum, ein Quentchen davon; aber sie besteht aus Zeit, gestaltet sich aus ihrem Ablauf, der ausserhalb von Musik etwas nicht zu Hemmendes, Gewaltsames hat.

Wie wird das fassbar?

Im Tempo. Was aber als schnell, was übereilt und gedehnt erscheint, ist über die Jahrhunderte hinweg auch dem Diktat der Moden unterworfen. Tempi treten zunächst einmal in ihrer Differenz zueinander auf; bei den meisten Interpreten erklärt sich das Langsame aus dem Schnellen, es muss einer schon sehr bedeutend sein, um ein langsames Tempo aus der Langsamkeit heraus sinnfällig zu machen.

Es gibt wichtigere Ausprägungen des zeitlichen Verlaufs in der Musik, als die Geschwindigkeit, mit der die Noten gespielt werden. Vor allem in der zeitlichen Parallelität, sei es nur die zweier Töne verschiedener Höhe oder unterschiedlicher harmonischer Zusammensetzung, zeigt sich eine Erscheinung, die mit Reibung zu bezeichnen wäre; ein nicht nur abstrakter Rest, die Möglichkeit, die Relation unterschiedlicher Modulation von Zeit dingfest zu machen.

Die Platte “Villancios“ (HM 1025) beginnt mit einem Stück, das begreifen lässt, in welchen Dimensionen Klang sich ausbreiten kann: Der dunkle Ton einer Trommel scheint unwirklich lange zu schwingen, sparsam variiert breitet er sich nicht nur im Raum aus, sondern zwingt die anderen Instrumente, an ihm entlang zu klingen. An diesem kargen Massstab können die Flöten kurzatmig erscheinen, ihre Freiheit zur Melodie und zum Ausdruck birgt auch die Gefahr des Leerlaufs - dazu bedürfte es vielleicht nur dreier Trommelschläge mehr.
In der Darbietung von Musik ergeben sich also ganz konkrete Masse für den Ablauf der Zeit: Der Schlag auf das Fell einer Trommel erzeugt einen Klang von signifikanter Dauer, eine Zeitspanne, die den Charakter des Instruments mitbestimmt, es wiedererkennbar werden lässt, letztlich auch das Wesen des “Perkussiven“ ausmacht. Soll der Ton länger dauern, muss er lauter sein, wird er lauter, klingt er anders; eine Verknüpfung, die akustisch erzeugte Musik dem Drumcomputer voraus hat.

Eine solche vom Leben eines Tons vorgemessene Zeitspanne prägt das Zeitempfinden des Hörers über ihre Dauer hinaus; sie kann bestimmen, wie lang eine Pause subjektiv währt. Um z.B. einen perkussiven Klang über seinen nervenstimulierenden Effekt hinaus wahrzunehmen, muss man ihn natürlich als Ganzes hören; er muss als entstehender, klingender, verklingender Ton deutlich werden; diese Ausdehnung muss ihm bleiben, auch wenn andere, vielleicht lautere Töne gleichzeitig gespielt werden.

Das Beobachten von Musik als Form von Zeit hat wenig mit Abstraktion zu tun; die Beziehung des Hörers kann eine sehr körperhafte sein, sich im unwillkürlichen Versuch äussern, die körpereigene Zeit mit der Musik zu synchronisieren: Man hält den Atem an - andere können Musik nicht hören, ohne zu tanzen. In dieser Übersetzung ins Gestische werden Grenzen offenbar, mit denen sich spielen lässt. Wenn der Bass in den “Danses anciennes de Hongrie“ (HM 1003, Seite A, erstes Stück) seine Trägheit genüsslich ausbreitet, entsteht nicht nur zwischen ihm und den anderen Streichern eine Spannung - wie langsam kann ein Tanz sein; wieweit könnte man ihn beschleunigen, bevor er aufhört, es zu sein?

Tempo ist nicht nur interessant, wenn es an äussere Grenzen stösst.

Michel Portal “Turbulence“ (HM 5186, Seite A, Mozambic): Man hört in erster Linie nicht nur eine Reihe von Tönen verschiedener Höhe, sondern die Modulation von Klängen durch den Atem, eine Phrasierung kurzer Tonfolgen, die sich gestaltend bis ins Innere des Klangs durchsetzt, sich als Rauhheit oder Glätte niederschlägt; man hört tiefe Töne, die durch ihre Binnenstruktur den Eindruck ausserordentlicher Schnelligkeit erwecken. Dadurch und ausserdem hört man sehr schöne Musik.

Eine solche Skala unendlich feiner Abstufungen ist nicht nur Vehikel künstlerischer Darstellung, in ihrer Wahrnehmung stellt sich die Ahnung eines gemeinsamen Zeitrahmens ein, einer fundamentalen Zeit, deren letzte Erstreckungen ausserhalb der Musik liegen.

Mit welchen technischen Mitteln ist das angemessen zu reproduzieren?

Um die Beziehungen zeitlich verschieden strukturierter Abläufe darstellen zu können bedarf es Methoden der Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe, die mit diesem Elemet Zeit richtig umgehen - es vor allem nicht zerschnippeln. Vielleicht ist hier ein Ansatz, die Pole analog und digital zu bewerten:
Zeit als gemeinsames Lebens- und Bezugselement der drei Ebenen

•  gespielte, erlebte, imaginierte “Ur“-Musik
•  technisches Medium / Speicher
•  vernommene, neu imaginierte Musik

Wie oft und wo ist dieser Weg unterbrochen? Reicht es, nur Informationen zu transportieren, wenn die Botschaft in deren Anordnung zueinander liegt?

Eine musikreproduzierende Anlage in dieser Richtung kompetent zu machen heisst für die Ansprüche an die Teile und das Ganze Kategorien zu finden, die im Lichte der High-End-Terminologie weit hergeholt erscheinen mögen, es heisst oft auch, einer ersten Faszination misstrauisch zu begegnen: Wunderschön, wie das Instrument da steht - aber warum eigentlich gerade da?

Der Raum

Rechts und links, abseits vom Weg - wie effektvoll und banal lässt sich diese Dimension aufspannen! Aber ob mir etwas nah oder fern liegt, sagt doch viel mehr über seine Bedeutung für mich.

Wieviel Lautsprecher braucht man dafür?

Der reflektierte Klang ist vom Raum, den er durchmessen hat, auf andere Weise geformt als der direkte; deshalb ist auch monaural Räumlichkeit zu hören, sicher nicht überrumpelnd, nicht von unmittelbar kulinarischem Wert, aber in einer Weise an den Klang gebunden, die ein Urteil darüber erlauben könnte, ob zeitliche und räumliche Kontur wesentliche, zwingende Beziehungen haben.

Dann gewinnt auch das rechts und links seinen Sinn, nicht als Breitwandfolie, sondern als Raum für das Gleichzeitige.
Viele Aufnahmen sind es nicht, die eine solche Auffassung nahelegen. Räumlichkeit wird oft als eigener, objektiver Wert angeboten, sie verselbständigt sich, wird Ornament eines Lebensgefühls, das nach dem Gediegenen verlangt; oder weniger polemisch: sinn-loser Rest eines im Übermass angewandten Gestaltungsmittels - eben Kitsch.

Früher, als das Wünschen noch half und die Dialektik noch funktionierte, hätte sich ein harmonischer Schluss von selbst ergeben: Raum und Zeit, von einer höheren Warte betrachtet...

Dass akustische Vorgänge sich auf den Achsen eines Koordinatensystems einordnen lassen, sagt aber wenig über Musik aus. Der Hörer muss seinen Standpunkt finden; mit Hilfe von Aufnahmen, die Aufführungsrealistik nicht vor die Musik stellen, mit einerAnlage, die ihm eine angemessene Auffassungstiefe bietet, und mit so etwas wie Gedächtnis.

Er steht dann nicht ausserhalb der Zeit, aber dort wo er sie als gestaltet überblicken kann - in Ruhe.


Ein Beitrag von Claus Hilgenstock
Frankfurt, Juni 2007